Auch wenn meine Liebste am liebsten auf dem Beifahrersitz Platz nimmt, beteiligt sie sich durchaus auch mal am Verkehrsgeschehen um uns herum. Also vor allem verbal. Mehr oder weniger offensichtliches Fehlverhalten anderer straft sie gerne mit einem lautstarken mündlichen Verweis ab. Den höre natürlich nur ich. Weil der andere Verkehrsteilnehmer ja doch irgendwie in einem der anderen Autos sitzt. Hat dann mehr rituellen Charakter. Ich stimme ihr für gewöhnlich zu oder verhalte mich still, damit der heilige Zorn an mir vorüber ziehen möge.
Neulich war meine Konzentration auf einen frei drehenden Radfahrer fokussiert, um eben diesen nicht zu überfahren. Meine Liebste wies den guten Mann – nicht unerwartet auf ein gewisses Empörungspotenzial ihrerseits hin (es fiel der Begriff „Heini“). Ein unaufmerksamer Moment und schon war es mir über die Lippen gerutscht: „Der kann noch so ein Idiot sein, wenn ich ihn jetzt überfahre, kriege ich mindestens Teilschuld.”
Sie guckte mich kurz von mittlerer Höhe aus an und stellte die Frage:
„Wer hat dich denn zum Verkehrsminister ernannt?”
Erstmal: schlagfertige Antwort, drei Punkte für die gegnerische Mannschaft. Und natürlich war uns beiden klar, dass ich nicht wirklich ein Ministerium welcher Art auch immer leite. Außer natürlich dem Ministerium der Herzen, weil ich meine bezaubernde Beifahrerin so sehr liebe.
Dann fiel mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, auf welch verschlungenen Wegen überhaupt irgendwer jemals Verkehrsminister geworden ist.
Ich verfüge allerdings erstmal nur über ein nicht besonders umfangreiches Archiv von Beobachtungsdaten. Beschränkt sich eigentlich auf: die beiden letzten Amtsinhaber und ihre Leistungen. Aber das reicht schon, um auszuschließen, dass eine Gruppe von gewählten Volksvertretern einen geeigneten Kandidaten aus der Reihe ihrer besten Männer ausgewählt hatte. Das passt nicht zusammen.
Ein solider Ausschluss ist ja ein wertvoller Erkenntnisgewinn, aber ab hier betrat ich vollkommen unkartiertes Gebiet. Einzeln betrachtet sind ein Scheuer oder ein Wissing Ereignisse mit lachhaft hohem Maß an Unwahrscheinlichkeit, aber eben nicht unmöglich. Zwei extreme Ausreißer hintereinander deuten allerdings auf beunruhigend regelhafte Systemprozesse hin, welche jenseits der Grenzen meiner Erkenntnisfähigkeit in einem trüben Meer reiner Verständnislosigkeit träge vor sich hin dümpeln.
Diese Frage hat mich dann auch ne ganze Weile beschäftigt. Am Ende konnte ich aber meine Gedanken doch noch in drei Hypothesen zusammenfassen.
Die erste Hypothese
Verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit existiert ein Geheimbund von Männern, deren Eltern ausschließlich Verwandte ersten Grades sind. Bei Neumond und zur Sommersonnenwende veranstalten sie einen Wettbewerb, bei dem lebendigen Hühnern die Köpfe abgebissen und dann so weit wie möglich in den Hinterhof gespuckt werden. Wer den Kopf am weitesten spuckt, wird zum wahren Führer der Nation gesalbt. Dieser schleicht sich von unten ins Parlament und hebt als erster die Hand, wenn es an der Zeit ist, einen neuen Verkehrsminister zu ernennen.
Die zweite Hypothese
Die gewählte Volksvertretung wählt eben doch einen geeigneten Kandidaten für das Amt aus, doch noch vor den ersten Entscheidungen des verehrten Herrn Ministers betritt eine kleine Gruppe schwarzgekleideter Gestalten das Ministerium, gelangt durch einen Geheimgang von hinten in das Büro des Hausherrn und entfernt ganz routiniert zwei Drittel seines Gehirns. Damit das nicht so doll auffällt, füllen sie den Leerraum im Anschluss mit Bauschaum und Holzwolle auf und machen sich danach unbemerkt aus dem Staub.
Die dritte Hypothese
Vielleicht erlauben sich die Verantwortlichen aber auch einen Spaß mit uns allen und haben mal irgendwann eine Wette an den Start gebracht, wie lange sie denn dem Wahlvolk Knalltüten auf den Bauch binden können. Also bis endlich mal jemand merkt, dass das nur ein lustiger Streich ist. Und mittlerweile ist allen schon ein wenig mulmig, weil sie jetzt schon die zweite Trantüte in Folge einsetzen mussten. Weil halt niemand den Streich bemerkte. Und jetzt machen sie auch keinen Rückzieher mehr, ist jetzt eine Sache der Ehre.
Und wer jetzt denkt, dass sich diese Theorien irgendwie seltsam anhören, soll mal berücksichtigen, dass alle Ideen, die mit sprechenden Pudeln, unerwarteten Manipulationen einer höheren Macht oder einer Horde von 23 nackten Jungfrauen zu tun hatten, im Vorfeld ausgeschlossen wurden.
Ich hab das dann auch mit meiner Liebsten besprochen und sie hält das alles für ausgemachten Blödsinn. Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht gibt es eine bestimmte Art von nicht-kausalen Ereignissen, die keine Ursache haben und ganz einfach nicht erklärt werden können. Und dann kann ich meine Zeit auch sinnvoller verbringen. Zum Beispiel damit, meiner Herzdame den Kopf zu kraulen. War zumindest eine ihrer rhetorischen Ideen. Das sind Ideen, die gar nicht diskutiert werden wollen. Und ich werde auch bestimmt nicht damit anfangen.
Während ich kraule, denke ich dann doch nochmal kurz über die Herausforderung nach, Hühnerköpfe so weit zu spucken, dass die Männer in Schwarz nicht mehr drankommen und kurz darauf bei einer schrecklichen Knallkopfexplosion alle miteinander das Zeitliche segnen. Sehr unwahrscheinlich. Aber nicht unmöglich.
Text von Kai-Uwe Makowski, editiert von Victoria Flägel. Vielen Dank dafür.